Raumquerung

Eine künstlerische Intervention
von Danuta Karsten


Seit 1880 transportierte die Niederländisch-Westfälische Eisenbahngesellschaft Personen und Güter von Gelsenkirchen-Bismarck über Borken bis nach Winterswijk. Von dort bestand Anschluss an die internationalen Seehäfen von Rotterdam und Amsterdam. Knapp hundert Jahre später wurde die Strecke für den Güterverkehr stillgelegt. Der Personenverkehr im Grenzgebiet war schon Anfang des 2. Weltkriegs eingestellt worden. Der Abschnitt zwischen Burlo und Winterswijk ist heute ein Naturschutzgebiet.


Das interaktive Projekt Raumquerung der Recklinghäuser Künstlerin Danuta Karsten holt mit Hilfe der modernen Medien die Ursprungsstrecke ins Hier und Jetzt zurück. Irritierend große, orangefarbige Markierungen an ausgesuchten Bahnhöfen entlang der heutigen Emschertalbahn und an den niederländischen Stationen eröffnen dem neugierig gewordenen Betrachter über QR-Codes eine virtuelle Reise durch Raum und Zeit.

Dortmund Hbf. ● Wanne-Eickel Hbf. ● Gelsenkirchen Zoo ● Gelsenkirchen-Buer Süd ● Gladbeck Ost ● Gladbeck-Zweckel ● Feldhausen ● Dorsten ● Winterswijk ● Amsterdam Hbf. ● Rotterdam, Hafen

Realraum – Kunstraum
Seit Jahren entwickelt Danuta Karsten raumbezogene Arbeiten. Mittels subtiler Interventionen wie durch das Einbringen von Folien, Papierschnitten oder Schnüren gewinnt der Raum in seiner Maßstäblichkeit, Ausdehnung, Funktion und Geschichte eine neue ästhetische Qualität. Eigenwillig, einer eigenen Logik folgend, besetzen die sorgsam gebauten Konstrukte den Raum. Ein schneller Blick auf das Ganze wird dabei häufig verwehrt. Gleich Hindernissen verstellen die zumeist äußerst fragilen Gebilde den Weg, zerschneiden als horizontale, vertikale oder diagonale Liniengeflechte das Raumkontinuum und ermöglichen dem Betrachter eine Lesart des Ortes, der sich durch Fremdheit und Poesie nachhaltig seinem Gedächtnis einprägt.

Recherche
Ausgangspunkt der Installationen von Danuta Karsten ist stets der konkrete Raum, dessen Architektur, Funktion und Geschichte die Künstlerin minutiös erforscht und neu interpretiert. Die Recherchen dauern oft Wochen und Monate. Erst allmählich kristallisiert sich das Werk heraus, bestimmt durch zahlreiche Faktoren, die nicht immer planbar sind oder bewusst offen gehalten werden. Karstens Arbeiten sind nicht konzeptuell. Sie gehören eher in die Tradition der »ortsspezifischen Objekte« (site-specific objects), deren formale und inhaltliche Ausgestaltung im Dialog mit dem jeweiligen Standort entsteht. Dies betrifft nicht zuletzt das Material, das gefunden und geformt werden muss. Wie in einem Forschungslabor werden die unterschiedlichsten Dinge ausprobiert, erste Lösungen verworfen, andere dem sich mehr und mehr verfestigenden Resultat entsprechend modifiziert. Auch bürokratische Hürden nehmen Einfluss auf das Werk. Nicht alles ist an jedem Ort machbar.



Reiseroute/Strecke
Danuta Karstens Arbeiten untersuchen, markieren und transformieren Räume. Innerhalb ihres Projekts Raumquerung ist dieser Raum erstmals eine Strecke, ein konkreter Weg von hier nach dort. Es ist der historische Weg der Steinkohle aus dem nördlichen Ruhrgebiet zum Seehafen Rotterdam. Wichtiges Verbindungsstück war die 1880 eröffnete Bahnlinie Gelsenkirchen-Bismarck – Winterswijk. Heute verkehrt auf einem Teilabschnitt die Emschertalbahn. In Dortmund startend nutzt sie von Gelsenkirchen Zoo bis Dorsten die alten Gleise. Von Dorsten bis Borken übernimmt eine aus Essen kommende Regionalbahn die Weiterfahrt. Zwischen Borken nach Winterswijk fahren heute nur noch Busse. In Winterswijk wiederum besteht Anschluss an das alte niederländische Streckennetz.



Unterwegs
Wie auf einer überdimensionalen Landkarte zeichnet das Projekt Raumquerung die alte Reiseroute nach – über den stillgelegten Streckenabschnitt hinaus, den sich die Natur inzwischen zurückerobert hat. Wegmarken sind leuchtend orangefarbige Kreidekreise von zwei Metern Durchmesser, welche die Künstlerin vor die Ein- und Aufgänge einzelner Bahnhöfe zwischen Dortmund und Rotterdam gesprüht hat. In der Nähe der Punkte findet der aufmerksame Reisende QR-Codes. Sie führen auf die Homepage des Projekts, wo sich im virtuellen Raum des Internets die historische Strecke mit der heutigen auf ganz besondere Weise verbindet. Dort, wo der Reisende eben noch den Punkt wahrgenommen hat, wo er also tatsächlich steht, sieht er auf seinem Handy plötzlich Menschen vor einer riesigen, bunt lackierten Meeresboje stehen. Parallel entdeckt er auf dem Display die Schemazeichnung einer Reiseroute, die seiner entspricht, gleichzeitig aber darüber hinausgeht. Folgt er durch Anklicken den einzelnen Markierungspunkten, öffnet sich Station für Station ein ähnliches Bild: Staunend stehen Menschen vor einem Objekt, das sich in der gewohnten Bahnhofsumgebung mehr als bizarr ausnimmt. Andere wiederum scheinen den auffälligen Fremdkörper gar nicht wahrzunehmen.

Zeichen
Die Bojen, genauer gesagt »Tonnen«, welche ursprünglich direkt auf den Bahnsteigen installiert werden sollten, sind real existierende Objekte aus dem Alltag der Seefahrt. In einem Bojenhof bei Rotterdam hat Danuta Karsten sie entdeckt und fotografiert. »Tonnen« gehören zu den schwimmenden Schifffahrtszeichen. Sie dienen der Navigation nach Sicht und werden oft an Gefahrenstellen positioniert. Sie sind durch Form, Farbe und Lichtsignale eindeutig unterscheidbar und haben international festgelegte Bedeutungen. Innerhalb des Projekts Raumquerung wandelt sich ihre Lesart ins Vieldeutige. Ob Skulptur, Fremdkörper, Navigationshilfe oder Sinnbild, fast verspielt lotet die Künstlerin in ihren Bildmontagen die Variationsbreite möglicher Interpretationen aus. Wie im Vorgriff auf den späteren Ankunftsort manövrieren sie den Fahrgast auf eine Reise zurück in die Vergangenheit. Zeitebenen verschieben sich, die Grenze zwischen Imaginärem und Realem wird durchlässig. Die Bojen weisen den Weg. Dabei überrascht ihre tatsächliche Größe; erst an Land zeigt sich ihre mit den Jahren von Muscheln und Algen verkrustete untere Hälfte. Auf einigen der Bildmontagen wirken die eigenwilligen Gebilde beinahe wie Freiplastiken. Doch ihre Dominanz und Klarheit irritiert. Irgendetwas ist falsch daran. Das Auge beginnt, das Bild nach verräterischen Hinweisen zu durchsuchen und nimmt dabei umso deutlicher die tatsächliche Umgebung der Objekte auf. So lenkt das befremdliche Objekt den Blick des Betrachters aus dem Bild heraus stets auch zurück zum realen Ort. Karstens differenzierte künstlerische Intervention macht ihn auf neue Art und Weise sichtbar.



Platzhalter
Ein anderes, in der europäischen Tafelmalerei entwickeltes Verfahren, den Betrachter suggestiv in ein Bildgeschehen einzubinden, sind in die Komposition eingefügte Figuren, die stellvertretend für ihn die dargestellte Szene anschauen. Meist sind es Rückenfiguren, deren Blickrichtung er folgen soll. Als vermeintliche Augenzeugen garantieren sie zugleich den Tatsachen- bzw. Wahrheitsgehalt der Darstellung. Danuta Karstens Bildmontagen bedienen sich dieser Tradition. Ihr Bildpersonal, das sich interessiert den Bojen zuwendet, ist Platzhalter ihres eigenen Künstlerinnenblicks. Als staunend aufmerksame Beobachter geben sie ein ideales Wahrnehmungsverhalten vor und lenken ab von dem, was ganz offensichtlich manipuliert, inszeniert wurde. Doch die Irritation bezogen auf das Ganze bleibt. Entdeckt und fotografiert hat die Künstlerin ihre »Avatare« während ihrer zahlreichen Recherchen vor Ort. Ein Dummy aus Kunststofffolie markierte die Stelle, wo sie sich in Gedanken bis zu sechs Meter hohe Objekte vorstellen sollten. Im Zuge der Aufnahmen kamen viele von ihnen auch ins Erzählen. Ihre Erfahrungen mit dem heutigen Standort gaben den Anstoß zu weiteren Recherchen. Diese flossen – nicht immer ganz wörtlich – als Bildkommentare in das Projekt mit ein.

Perspektivwechsel
Das irritierende Spiel der Blicke und Perspektivwechsel zieht sich wie ein roter Faden durch Danuta Karstens Projekt. Die Homepage dokumentiert weitere Beispiele. Mit der Drohne gefilmte Sequenzen der Bahnhofsvorplätze gewähren einen Blick aus der Vogelperspektive. Seitlich aus dem Zugfenster fotografierte Bilder mit ihren typischen Bewegungsunschärfen mischen sich mit Aufnahmen aus der Perspektive des Lokführers. Der durchquerte Raum zerfällt in eine Vielzahl möglicher Ansichten. Es ergibt sich kein einheitliches Bild, kein klar umgrenzter Raum wird definiert. Raumquerung markiert einen Bewegungs- und Erfahrungsraum, der visuell und diskursiv von Mobilität, Veränderung und der Virtualität des Netzes geprägt ist. Dabei tun sich, folgt man der Logik der von Karsten subtil gesetzten Interventionen, im Innehalten und genauen Hinschauen anregend neue An- und Einsichten auf.

Sigrid Godau

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